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#2 Wir sind alle Fachleute

In meinem früheren Job hab ich mit Menschen gearbeitet, die sowohl kognitiv als auch körperlich schwer beeinträchtigt waren. Im Fachjargon hatte ich mit Menschen mit basalen Bedürfnissen zu tun. Was mir beim täglichen Umgang mit ihnen schnell klar wurde: sie alle waren Expert:innen in ihrem Leben. Sie waren Fachleute darin, sie selbst zu sein, mit allen Herausforderungen in ihrem Leben umzugehen und letzlich waren sie Expert:innen darin, nicht an den Um- und Zuständen in ihren Lebensrealitäten zu zerbrechen.

In der Betreuung von Kindern und Jugendlichen im Jugendzentrum denke ich jetzt oft an meinen alten Job. Vor allem in den Momenten, wo ich lernen darf. Wo es ganz deutlich wird, dass ich derjenige bin, der jetzt etwas lernt. Entweder sind es Erlebnisse, die mich im Nachhinein beschäftigen, die mich darüber nachdenken lassen, ob ich richtig und angemessen reagiert habe. In der Selbstreflexion kommt es bei mir meistens zu einem Lerneffekt. Oder aber ich lerne ganz plakativ, wenn mir Jugendliche Dinge erzählen oder zeigen, die ich nicht kenne oder kann: Schlagkombinationen am Boxsack, Tricks mit dem Scooter oder Skills am Handy bei TikTok. Bei solchen Dingen fällt es mir/ uns oft leicht anzuerkennen, dass die Kinder und Jugendlichen mehr Wissen haben als wir. Dass sie erfahrener sind und daher besser Bescheid wissen. Wenn es aber um das Aufwachsen in St. Ruprecht geht, wenn es beispielsweise darum geht, wie es so ist als Migrant:in in Klagenfurt, als von Armut Betroffene:r, als in einer Jugend-WG-Wohnende:r, dann reicht unsere Anerkennung oft nicht so weit. Wir behaupten dann immer noch, dass wir besser wissen, was „am Besten“ ist. Oder zumindest, dass wir wissen, was „das Beste“ wäre. Oft denke ich mir bei Gesprächen mit unseren Jugendlichen, wie unglaublich herausfordernd die Situation für sie sein muss, und wie toll sie das meiste davon eigentlich meistern. Ich sage ihnen dann auch öfters, dass ich sie dafür bewundere, wie sie das alles „gebacken“ kriegen. Das erfüllt sie mit Stolz und ich kann erkennen, dass es ihnen gut tut.

Mein Zugang ist folgender: Ich anerkenne unsere Jugendlichen als Fachleute in ihrem jeweiligen Spezialgebiet. Sie sind genauso Fachleute wie wir Betreuer:innen. Unsere Erfahrungsbereiche sind oftmal größer, weil wir älter sind. Aber auch wir haben blinde Flecken. Das gegenseitige Aufmerksam Machen auf unsere blinden Flecken halte ich für etwas ganz Zentrales in unserem Tun.

Selbst die größten Experten machen Fehler, liegen mal daneben mit ihren Einschätzungen oder irren sich. Das ist menschlich. Ich weiß, dass unsere Jugendlichen oft Fehler machen. Genau wie wir. Dieser Umstand macht uns änhlich, dieser Umstand ist eine gute Basis für Begegnung.   

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25.04.2022, Paul, Jugendzentrum St. Ruprecht, Klagenfurt